Geschichte des Abendgymnasiums


Eine alte Akte

Von außen ist nichts Geheimnisvolles zu erkennen, ein Leitzordner wie andere auch. Ungewöhnlich ist allenfalls die deutsche Schrift: "Ab"/ "Abendgymnasium" steht darauf. Innen vergilbtes Papier, stark holzhaltig, wie es in der Nachkriegszeit üblich war. Das Datum des ersten Blattes: 22.4.1949. Mit Schreibmaschine geschrieben, der Durchschlag eines Ratsprotokolls. Unter der Überschrift "Vorlage für den Hauptausschuss" steht da: "Die Ratsversammlung hat am 2.3.1949 die Einrichtung einer Abendoberschule beschlossen und den Hauptausschuss beauftragt, das Statut nach Beratung durch den Schulausschuss zu genehmigen." "Statut" ist mit Bleistift durchgestrichen und durch "Schulordnung" ersetzt.

Was man hier in den Händen hält, ist quasi die Geburtsurkunde des Abendgymnasiums, als Städtische Abendoberschule gegründet und, zumindest was die Verwaltung betraf, mit der Volkshochschule liiert (Sekretariat: Lessingplatz 12). Der Unterricht selbst fand allerdings von Anfang an im Gebäude der Kleinen Burg statt, dessen Direktor auch die Abendschüler betreute.

Ein altes Stück: Die Lehrerfächer beider Schulen

Die Unsicherheit in Sachen "Statut" bzw. "Schulordnung" kommt nicht von ungefähr, denn da werden sowohl die Organisation der Schule wie auch die Aufnahmebedingungen beschrieben. Organisatorisch waren zwei Kurse vorgesehen, die zum Abitur führen sollten, ein zweijähriger für diejenigen, die die Zulassung für die zehnte Klasse besaßen, und ein dreijähriger für ehemalige "Volksschüler", bei denen allerdings vorausgesetzt wurde, dass sie sich weitergebildet hatten.(Anmerkung: Die "Volksschule" umfasste damals nur acht Jahre!)
Neben abgeschlossener Berufsausbildung wurden "soziale Würdigkeit" und "politische Unbedenklichkeit" verlangt. Für den Nachweis der ersteren genügte ein polizeiliches Führungszeugnis; zur zweiten werden keine Angaben gemacht - ob man wohl einen Spruchkammerbescheid (Entnazifizierung!) vorlegen musste?

Übrigens: Der Schulbesuch kostete Geld, einhundertzwanzig kostbare neue DM (die Währungsreform hatte erst ein Jahr zuvor stattgefunden) musste man pro Schuljahr bezahlen, bei Bedürftigkeit konnte eine Ermäßigung bis zu 20 % erfolgen. (Anmerkung: Auch an "normalen" Gymnasien zahlte man damals noch Schulgeld; nach meiner Erinnerung war erst 1952 Schluss mit dieser asozialen Einrichtung.)

Unterzeichnet ist die "Geburtsurkunde" vom "Stadtrat Prof. Staats", und der hat dann auch, wie auf dem zweiten Schriftstück zu lesen ist, das Kind aus der Taufe gehoben: Er war es, der bei der Eröffnung der "Städtischen Abendoberschule Braunschweig" am 10. Mai 1949 im Saal des Hauses Salve Hospes die Begrüßungsansprache hielt.
Der Text seiner Rede ist nur im referierenden Konjunktiv überliefert, doch sie besaß eine geradezu paradigmatische Kraft, sie stellt nämlich die erste in einer langen Reihe von "Blut-Schweiß-und-Tränen-Reden" dar, die seitdem zum Abendgymnasium gehört wie das Amen in die Kirche. Der frisch gebackene Schulleiter Dr. Bock stieß ins selbe Horn mit seinem bereits zitatenreif gewordenen Satz, nur die Zähesten hätten Aussicht auf ein Durchkommen.(Anmerkung: dass es sich um eine sich selbst erfüllende Prophezeihung handelte, wird aus dem Bericht der "Veteranen" beim Treffen am 10.10.1998 sichtbar.)

Auf einigen Blättern erhält man auch einen Blick auf die Abendschüler und ihre Probleme: Für bedürftige Schüler war die Stadt bereit, einen kleinen Zuschuss ("Ausbildungsbeihilfe") zu zahlen, es handelt sich um die Summen von sage und schreibe 20 bzw. 10 DM, die 1950 sieben Schülern gewährt wurde. Der Antrag von zehn weiteren wurde abgelehnt, weil sie die Voraussetzungen nicht erfüllten (Bedürftigkeit und gute Schulleistungen).
Ein "Erhebungsbogen für die Höheren Schulen" des Niedersächsischen Amtes für Landesplanung und Statistik verrät uns, dass 53 Schüler am 15.3.1950 die Schule besuchten; unter ihnen befanden sich "50 Jungen und 3 Mädchen".

Dass das Abitur als erstrebtes Ziel die Menschen manchmal auch auf schlechte Gedanken bringen kann, zeigt ein vergilbter Zeitungsausschnitt, der in dieser Akte die Jahrzehnte überlebt hat. Unter dem Datum des 13.11.1950 findet sich eine Meldung, die so erschröcklich ist, dass sie hier im Wortlaut zitiert werden soll:
"Stempel und Zeugnisformulare...
Ein Wachmann überraschte in der Nacht zum Sonnabend einen 19jährigen auf frischer Tat beim Einbruch in die Direktionsräume der Gaußschule. Der herbeigerufene Radiowagen nahm ihn fest und führte ihn der Kriminalpolizei vor. Nun ergab sich, dass es sich um den seit einiger Zeit gesuchten Schulhauseinbrecher handelt. Der Täter gab zwei Einbrüche in die Gaußschule und einen in das Lyzeum (Anmerkung: Mädchengymnasium, gemeint ist die Kleine Burg) zu. Er hatte es jeweils vor allem auf Schulstempel und Abiturzeugnisformulare abgesehen. Nebenbei ließ er allerdings auch größere Summen Bargeld aus den Schulkassen mitgehen. ...Der Täter ist Abendkursusteilnehmer und wollte das Abitur ablegen. Es steht noch offen, ob er sich und anderen Teilnehmern des Abendkursus bei der Erreichung dieses Zieles helfen wollte."

Über das weitere Schicksal dieses Missetäters ist nichts bekannt; nehmen wir an, dass er "relegiert" (= aus der Schule geworfen) wurde, was damals ab und zu vorzukommen pflegte. Hätte er es doch lieber auf ehrliche Weise versucht wie die vielen anderen, die seit dieser Zeit am Abendgymnasium ihr Abitur gemacht haben.

Allerdings benötigten sie, wie dem Schreiben des damaligen Direktors Heckhausen an einen Bewerber aus dem Jahre 1960 zu entnehmen ist, vorzüglich zwei Eigenschaften, nämlich "überdurchschnittliche Begabung zur Beschäftigung mit geistigen Dingen" und eine "hervorragende Gesundheit".

Und fast am Schluss der Akte findet sich noch ein Schreiben, das wie ein verspätetes Happy End anmutet: Da hatte doch im Jahre 1952 die Deutsche Bundesbahn das Abendgymnasium nicht als eine Schule anerkannt, deren Schüler würdig gewesen wären, in den Genuss einer Schülerfahrkarte zu gelangen. Pech für den jungen Mann aus Grasleben, der verbilligt hatte nach Braunschweig reisen wollen! Erst sechs Jahre später und offensichtlich nach einer Intervention des Präsidenten des Niedersächsischen Verwaltungsbezirks Braunschweig
(= Regierungspräsident) war die Bezirksdirektion Hannover bereit, die Schulbescheinigungen des Abendgymnasiums Braunschweig zu akzeptieren...

Inge Gerlach



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