Geschichte des Abendgymnasiums


Erinnerungssplitter

Man kann es sich gut merken: das Abendgymnasium Braunschweig ist so alt wie die Bundesrepublik - 50 Jahre! Anlaß also wohl, fast Vergessenes noch einmal Revue passieren zu lassen: nicht die Geschichte des Abendgymnasiums, ein paar Erinnerungssplitter nur. 'Zweimal leben heißt, in der Erinnerung leben.' (Martial)

Aus eigener Anschauung lernte ich das Agy 1962 kennen; da war es noch jung, ganze 13 Jahre. Es war damals sozusagen ein Anhängsel des Gymnasiums Kleine Burg. Beide Schulen hatten den gleichen Schulleiter, und die meisten Lehrkräfte, die am Agy unterrichteten, hatten ihre Planstelle an der Kleinen Burg. Am Agy selbst gab es zunächst nur drei Planstellen.

Nachdem ich im Herbst 1961 meinen Dienst an der Kleinen Burg angetreten hatte, eröffnete mir der Direktor, Herr Heckhausen, gegen Ende des Schuljahres (Ostern 1962), ich müßte im kommenden Schuljahr eine Agy-Klasse in Mathematik übernehmen. Einer der Kollegen wollte nach mehreren Jahren am Agy mal wieder nur am Vormittag unterrichten, und es wäre an der Schule so der Brauch, daß man sich da auch mal abwechselte. So kam es also, daß ich im Frühjahr 1962 meine erste Mathematikstunde am Agy in einer Klasse V1 gab, einer von sieben Klassen, aus denen das Agy damals bestand.

Allzu groß war meine Freude über diese Abordnung zunächst nicht. War es doch damals keineswegs allgemein üblich, daß Lehrer an verschiedenen Schulen zu unterrichten hatten! (Heute ist das fast die Regel.) Man konnte ja durchaus morgens ab 8 Uhr an der Kleinen Burg und am Abend des gleichen Tages bis 21.35 Uhr am Agy eingesetzt werden. Mehr noch als jetzt fehlte es damals auch an Unterrichtsmaterial, das sich für berufstätige Erwachsene eignete. Um diesen erschwerten Bedingungen Rechnung zu tragen, wurden die am Agy zu haltenden Stunden im Verhältnis 2:3 auf die Lehrverpflichtung angerechnet. Einige Jahre später verschlechterte sich dieses Verhältnis auf 4:5, obwohl der allgemeine Trend zu jener Zeit eher auf eine Verkürzung der Arbeitszeit zielte.

Erster nachhaltiger Eindruck bei meiner abendlichen Tätigkeit: das Lehrerzimmer! Als Lehrerzimmer wurde nicht etwa das der Kleinen Burg benutzt. Dort hatten die meisten der Anwesenden ja schon am Vormittag ihre Pausen verbracht. Als Lehrerzimmer für das Agy diente vielmehr die nebenan liegende Garderobe der Kleinen Burg, ein schmaler Raum mit einem einzigen Tisch und einer Eckbank, in dem zu Stoßzeiten nicht jeder einen Sitzplatz fand! Einen plausiblen Grund für diese eigenartige Gepflogenheit habe ich nie ermitteln können.

Nachdem das Agy das Erwachsenenalter erreicht hatte, wurde es 1968 selbständig. Es bekam nun einen eigenen Schulleiter und selbstverständlich auch ein eigenes Sekretariat. Vermutlich weil sich der als Lehrerzimmer genutzte Garderobenraum so trefflich bewährt hatte, wurde dem Sekretariat der genau über dem Garderobenraum liegende Raum mit gleichem Grundriß zugewiesen.
(1978 arbeiteten in diesem 'Sekretariat': zwei Sekretärinnen, der Schulleiter, sein Stellvertreter und der Koordinator!!)

Die 'Einsteigerklassen' waren zu Beginn eines Schuljahres meist überfüllt. Das war der 'Normalfall'. Schon nach wenigen Tagen oder Wochen pflegten sich die Reihen zu lichten. Viele der Anfänger wurden nicht nur durch die für sie so ungewohnte Schülerrolle, sondern auch durch den 'Massenbetrieb' entnervt und abgeschreckt; nur die wild Entschlossenen blieben. Anfänglich gab es auch so gut wie keine Wahlmöglichkeiten bei der Belegung der Fächer, lediglich beim vierten Hauptfach konnte man sich zwischen Latein und Physik entscheiden.

Erst allmählich kam Bewegung in diese seit 20 Jahren festgefügte Ordnung. Zum einen wurden die Anfängerklassen geteilt, wenn die Zahl der Anmeldungen zu groß war. Nun konnte es nicht mehr vorkommen, daß sich zwischen 30 und 40 'Neue' in einem Raum einfanden, der eigentlich für 25 Schüler gedacht war. Zum anderen wurden auch Fächer eingeführt, die bis dahin am Agy nicht unterrichtet worden waren: Französisch und Biologie, später noch weitere Fächer.

Beide Maßnahmen hatten Folgen. Es wurden mehr Lehrkräfte benötigt als zur Verfügung standen. Um dieses Defizit auszugleichen, wurden Aushilfskräfte angeworben: pensionierte Gymnasial- und Realschullehrer, aber auch Fachleute aus nichtschulischen Bereichen. Nicht immer ging das ohne Probleme ab. Eine der positiven Auswirkungen war aber, daß die Anzahl der 'Abbrecher' in den ersten Wochen deutlich zurückging.

Der offensichtliche Ausstattungsmangel beflügelte gelegentlich die Phantasie und den Erfindungsreichtum: da an eine Stecktafel wegen fehlender Etatmittel nicht zu denken war, erschien zu Beginn eines Schuljahres der Stundenplan auf rotkarierten Geschirrtüchern. In den 'Kästchen' waren mit Stecknadeln Pappschildchen mit den Namen von Lehrkräften, Fächern und Klassen befestigt. Obwohl diese Erfindung beifällig, wenn auch milde lächelnd, aufgenommen wurde, scheint sie letztlich den Erwartungen des Stundenplanmachers doch nicht entsprochen zu haben, denn sie wurde beim nächsten Mal durch andere Experimente abgelöst.

Die Erinnerung scheint wie ein Zeitraffer zu wirken: ich kann mir die Schule kaum anders vorstellen als mit Baustelle, entweder in unmittelbarer Umgebung oder im Gebäude selbst. Es begann mit dem Bau des Gerichtsgebäudes anstelle der kriegszerstörten Aula und setzte sich in den folgenden Jahren - bis heute - als 'unendliche Geschichte' fort. Damals versprach die Stadt übrigens den Bau einer neuen Schule. Dabei hatte das Agy ja im Gegensatz zur Kleinen Burg noch Glück! Während der Unterrichtszeit war der Baulärm gewöhnlich schon abgeebbt. So manche Abiturarbeit allerdings wurde durch Preßlufthämmer klanglich untermalt.
Im 30. Jahr seines Bestehens erfuhr das Abendgymnasium Braunschweig seine wohl tiefgreifendste Umstrukturierung. 1979 wurde das Kurssystem eingeführt, zunächst als Schulversuch, danach als ständige Einrichtung, in der den Studierenden ähnliche Wahlmöglichkeiten wie an Tagesgymnasien eingeräumt wurden. Auch dafür wäre ein Jubiläum fällig, wenigstens ein kleines.

Geibel schrieb: 'In Erinnerung nur zu schweben / Wie im Wind ein welkes Blatt, / Hüte dich! Nur das heißt leben, / Wenn dein Heut ein Morgen hat'. Was soll man dem Agy für das Morgen wünschen? Vielleicht ein werbewirksameres Image: 'AGY 2000'? Oder gar eine Umorganisation: 'Verläßliches Agy' mit Betreuung der Studierenden von 16.45 Uhr bis 21.35 Uhr, von wem auch immer? Aber diese Frage läßt sich sicherlich mit Hilfe des Kultusministeriums lösen; von dort sind ja schon immer wundervolle Ideen gekommen.

Hartwig Quabeck

 


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